libra
£
Lira
Lire
Libelle
Libellulae
Odonata
niveau
level (W3)
Lat. "libra" = dt. "Waage", "Pfund" ging gerne auf Wanderschaft. Als Währung findet man es im britischen "Pfund", das mit "£" (für "libra") abgekürzt wird, und fand man es (bis 2001) in der ital. "Lira".
Etwas unerwartet trifft man aber auch auf die dt. "Libelle", die zur Verkleinerungsform lat. "libella" gebildet wurde. Ganz unvoreingenommen könnte man ja vermuten, dass die "Libelle" ihren Namen dem ständigen Ausbalancieren beim Fliegen verdankt. Aber die Geschichte ist etwas interessanter. (Und die Griechen und Römer hatten noch keine Bzeichnung für die "Libelle".)
Der dt. "Hammerhai" wurde bereits seit einigen Jahrhunderten mit einer "Nivellierwaage" verglichen (die im 16. Jh. in Gebrauch war) und deshalb zoolog. "Libella marina" genannt. Und nun kommt der französische Arzt Guillaume Rondelet (1507-1556) ins Spiel. Dieser untersuchte Wassertiere und fand, dass die Larve der "Wasserjungfer" einem "Hammerhai" ähnelt. Und so gab er in seinem Werk über Wassertiere ("Universae aquatilium Historiae pars altera, cum veris ipsorum imaginibus", Lyon 1555, Seite 213) der Larve der Kleinlibelle die Bezeichnung zoolog. "libella fluviatilis" (lat. "fluviatilis" = dt. "in / an Flüssen lebend / wachsend"). (Andere Autoren nannten die Libelle "perla", "mordella" oder "orsodaena".)
Der erste, der den Ball aufnahm, war Konrad Gessner (1516-1565), ein Schüler von Guillaume Rondelet. In seinem Werk "Historia aquatilium" (1558) verwendet er ebenfalls die Bezeichnung "libella" für die "Wasserjungfer".
Als nächsten findet man Th. Moufet (auch "Muffet", 1553-1604), der in einem 1634 in London erschienen Werk ("Insectorum sive minimorum animalium theatrum"), die Bezeichnung "Libella" verwendet. Auch wenn einige Autoren noch andere Bezeichnungen verwenden (wie etwa engl. "Dragon-flies" von Bacon), setzt sich die "libella", "libellae" im 17. Jh. immer mehr durch.
In einem rein deutsch geschriebenen Werk findet man die "Libelle" zum ersten Mal im Jahr 1730 in dem Werk "Beschreibung von allerley Insecten in Teutsch-Land" von Johann Leonhard Frisch ("Von den libellis oder sogenannten Jungfern").
Eine Dissertation aus Uppsala aus dem Jahr 1732 trägt den Titel "De libellis".
Spätestens als Carl von Linné die Bezeichnung in seiner "Systema naturae", 1735, als wissenschaftlichen Namen übernimmt, hat sie sich durchgesetzt. Allerdings trägt Linné der Tatsache Rechnung, dass die Verkleinerungsform "libellae" von "libra" bereits für den "Hammerhai" benutzt wurde und benennt die Insektenordnung "Libelle" mit einer nochmaligen Verkleinerungsform zoolog. "Libellulae" = dt. "kleines Librachen".
Dem Bearbeiter der deutschen Ausgabe von Linnés 12. Auflage der "Systema naturae", Philipp Ludwig Statius Müller, war bereits im 18. Jh. die Herkunft der Bezeichnung "Libelle" nicht mehr bewußt, da er die Bezeichnung immer noch auf den waagrechten Flug der Libellen bezieht:
„Die lateinische Bezeichnung "libellula" scheinet einen Wagebalken zu bedeuten, und diesen Insecten darum gegeben zu seyn, weil, wenn man sie bey den Flügeln fasset, der Körper gleich einem Wagebalken hangt, wenigstens haben sie mit dem "Balanzfisch" oder "Schlegelfisch" im Griechischen einerley Namen, und heißen "Zigaena", und da sie insgesamt große Augen haben, die wie Perlen hervorragen, so hießen sie auch sonst bey den Lateinern: "Perlae".“
In Deutschland wurde die "Libelle" von den Dichtern (Goethe, Herder, ...) gerne aufgegriffen, was auch zur Verbreitung der Bezeichnung beigetragen haben dürfte.
Während sich die "Libelle" umgangssprachlich durchsetzte begannen die Wissenschaftler schon wieder neu zu sortieren. Johann Christian Fabricius gab der Ordnung der Libellen im Jahr 1792 die Bezeichnung zoolog. "Odonata" = dt. "Gezähnte" (zu griech. "odoús" (Gen. griech. "odóntos")" = dt. "Zahn"), und nahm damit Bezug auf den mit Zähnen besetzten Kiefer der Libelle. Allerdings blieb die zoologische Bezeichnung "Libellulae" erhalten, als Bezeichnung für die Gattung der Familie "Libellulidae", von der drei Arten auch bei uns vorkommen.
Auch im Bereich der Meßinstrumente hat sich die "Libelle" erhalten, als Bezeichnung für den Nivellierteil von modernen Messinstrumenten.
Aber das lat. "libra" hat mit seiner Diminutivform lat. "libella" noch interessantere Abkömmlinge hervorgebracht. So wurde das mittellateinische " libellus", "libellum" zu altfrz. "livel" verändert und verkürzt. Und da es vielen Sprechern schwer fiel den gleichen Konsonanten in kurzem Abstand zu wiederholen, ging man noch einen Schritt weiter und machte aus altfrz. "livel", frz. "nivel", "niveler".
(Die Linguisten nennen dies "Dissimilation" = dt. "Unähnlichmachung", "Änderung eines von zwei gleichen oder ähnlichen Lauten in einem Wort oder Unterdrückung des einen von ihnen". So wurde etwa aus althdt. "kuning" dt. "König", und aus "Tartüffel" wurde dt. "Kartoffel", und aus lat. "peregrinus" wurde frz. "pélérin" und dt. "Pilger").
Also aus lat. "libra" = dt. "Waage" wurde über einige Veränderungsstufen "nivel" und frz. "niveau" (16. Jh.). Und da man das "Nivellierinstrument" "Wasserwaage" im 16. Jh. in Frankreich erfand, wurde es mit der Bezeichnung exportiert. Und so kam frz. "niveau" auch nach Deutschland. Als fachsprachliche konnte sich dt. "Niveau" zwar nicht halten, aber es wurde im 18. Jh. mit mehreren Bedeutungen "waagrechte Fläche", "Höhenstufe", "Rang" in die Umgangssprache übernommen.
Interessant dabei ist, die Entwicklung im Englischen. Die ehemaligen Nordmänner, die in der Normandie französische Sitten und Sprache angenommen hatten, brachten diese nach 1066 mit "Wilhelm dem Eroberer" nach England. Im Gepäck hatten sie auch das altfrz. "livel". Danach lösten sich langsam die Verbindungen zum europäischen Festland und auf der Insel wurde aus "livel" das engl. "level" mit den selben Bedeutungen wie frz. "niveau". Einige Jahre später ("in jüngster Zeit") kam auch engl. "level" nach Deutschland. Insbesondere bei Computerspielen muß man verschiedene Level durchlaufen.
Damit haben wir ausgehend von lat. "libra" und dessen Diminutivform "libella" mehrere sehr unterschiedliche Abkömmlinge über verschiedene Wege in die deutsche Sprache aufgenommen. Wer sieht schon der nicht mehr existierenden "Lire", der "Libelle", dem "Niveau" und dem "Level" ihre Verwandtschaft an.
Beteiligt waren an diesen Veränderungen die Metapher, die Metonymie, die Bildung von Verkleinungsformen und Lautveränderungen. Und die Verbreitungswege liefen nicht nur über verschiedene Länder und Sprachen sondern auch auf unterschiedlichem Niveau wie Fachsprachen (Zoologie), Dichtersprache, gehobene Sprache und schließlich der allgemeinen Umgangssprache.
Anmerkung:
Ich habe mir erlaubt einen Artikel mit eigenen Worten und etwas verkürzt wiederzugeben. Das Original finden Sie auf folgender PDF-Seite
(E?)(L?) http://www.amici-online.eu/Cursor_09
cursor Latein4EU
Nr. 09 - FEBRUAR 2010
ZEITSCHRIFT FÜR FREUNDE DER LATEINISCHEN SPRACHE UND EUROPÄISCHEN KULTUR
Seite 14 - 17
Virtuose Libellen - von altrömischer Mannhaftigkeit, schillernden Wäglein und Gedanken zu einem modernen Sprachunterricht
Christian Seidl und Christian Utzinger
Erstellt: 2012-09